Sonntag, 21. Februar 2016

Alles wird gut!

Ich wache auf und blinzle vorsichtig durch das Seitenfenster auf das dahinziehende Wasser. Graugrün gurgelt es am Schiff vorbei und ich bemerke, daß die Motoren laufen.

Scheinbar hat die Wettervorhersage recht behalten und in der Nacht hat der Wind gedreht. Immerhin, so erfahre ich bald, hat es für die Hälfte der geplanten Strecke gereicht.

Doch vorerst experimentiere ich, so unglaublich es klingt, mit umherschauen. Kann ich offenen Auges eine Innenwand oder einen anderen feststehenden Gegenstand anschauen, ohne das mein Magen rebelliert? Ich habe den Eindruck, es funktioniert. Besser jedenfalls als gestern. Irgendwann in der Nacht habe ich es wohl geschafft, meine Akkupressur-Armbänder überzustreifen. Die haben beim letzten Mal doch auch geholfen. Und ich möchte nur im Notfall zu Chemiekeule greifen, die Babsi mir aber vorsichtshalber mit eingepackt hat. Ich liebe sie für diese Fürsorge.

Ich beschließe, aufzustehen. Doch schon die ersten Bewegungen bremsen meine Experimentierfreude. Ich sollte es langsam angehen. Allmählich setze ich mich auf und bringe die erste große Hürde hinter mich: ich bücke mich nach meinen Schuhen. Als ich wieder oben bin und außer aufkommendem Schwindel nichts passiert, packt mich der Heldenmut: ich beginne sie anzuziehen. Auch das gelingt und so torkle ich auf dem schwankenden Schiff nach „oben“ in den Salon, wo die anderen drei bereits frühstücken.

Ob ich auch etwas essen wollte? Nein, danke. Im Moment halte ich mich noch zurück, stelle aber fest, das es mir schon bedeutend besser geht als gestern. Da ich es nicht überstrapazieren möchte, gehe ich direkt nach draußen und setze mich auf die Bank vor dem Salon in Freie. Blick auf’s Wasser. Gut. Das geht.

Die See rollt nun lang von hinten heran und nimmt die Kalypso so mit jeder Welle etwas mit, so fühlt es sich jedenfalls an. Wir machen nur noch fünf Knoten Fahrt. Mehr schaffen die beiden 20-PS-Volvos nicht.

Besuch

Das es immer noch so kalt und usselig ist, kümmerte mich grade wenig. Draußen ist ein guter Ort. Auch wenn er kalt ist. Gaetan erzählt mir, daß gestern Abend die ersten Delfine beim Boot aufgetaucht sind. Eine Schule von fünf, sechs Tieren, die eine Weile um das Boot herumgetollt sind und dann wieder verschwanden.

Und wie auf Kommando entdecke ich kurz darauf zwei schwarze Finnen, die uns an Steuerbord kurz besuchen. Ein Glücksfall. Jedes Mal wieder. Für Gaetan, der schon einige hundert Seemeilen auf dem Buckel hat, sind es die ersten Delfine, die er auf freier Wildbahn sieht. Und wir grinsen einander an und sind uns einig: ein solcher Besuch ist für Segler ein echtes Erlebnis.

Gaetan meint, es sei besser, etwas zu essen, damit mein Magen sich beruhigt. Was sich zunächst in meinen Ohren widersprüchlich anhört, entpuppt sich als echter Insidertipp. Fast unmittelbar, nachdem ich ein Stück Weißbrot mit etwas Wasser heruntergespült habe, fühlt sich mein Magen noch etwas stabiler an. Gaetan meint, Seekrankheit dauere etwa drei Tage. Dann sei es gut. Dann hat sich der Organismus an die ständige Bewegung gewöhnt und das Gehirn schlägt keine Kapriolen mit dem Gleichgewichtsorgan.

Da wir auf offener See sind, wo man eben nicht mal schnell für eine Pause neben ran fahren kann, sind wir die Nacht durch gefahren. Philipp hat ein Zwei-Stunden-Wachsystem beschlossen, in dem alle Mannschaftsmitglieder rotierend eingesetzt werden. Ich nehme mir vor, nicht noch einmal auszufallen. Seekrank oder nicht.

Doch jetzt ist es hell. Die anderen sind auf und wach und so beschließe ich, es nicht zu übertreiben. Ich leg mich noch mal hin. Nach diesem Nickerchen sind die Symptome so gut wie weg und meine Gedanken haben die Chance, wieder um andere Dinge zu kreisen als darum, wo ich grade hinschauen kann und wo nicht.

Knightrider auf hoher See – K.I.T.T., bitte bring mich nach…

Segeln, so dachte ich, bedeutet, ohne Unterlass am Steuer zu stehen, ständig die Segel im Auge zu behalten, den Wind zu prüfen, die Lage des Boots, die eingeschlagene Richtung, den Kurs, den Himmel und was es eben noch alles zu beachten gilt. Doch da habe ich mich wohl getäuscht. Zumindest bei Fahrten wie dieser. Ein Bataillon technischer Helferlein erleichtern die Langfahrt erheblich. Und so genügt es, der Yacht „zu sagen“, sie solle einem festgelegten Kurs folgen und den Rest erledigt die Selbststeueranlage. Das Steuerrad ist wie von Geisterhand ständig in Bewegung und korrigiert die Fahrtrichtung pausenlos auf den eingeschlagenen Kurs. Alles, was der Segler noch zu tun hat ist, regelmäßig zu schauen, ob denn da nicht ein Hindernis auftaucht. Man sollte einem 100m-Frachter schon rechtzeitig ausweichen. Der würde vermutlich nicht mal bemerken, daß da grade eine Plastikschüssel an seiner Backbordwand zerschellt ist. So beschränkt sich das Fahren eines Schiffes auf offener See einfach nur darauf, die nähere Umgebung entweder auf dem Bildschirm des Kartenplotters zu überwachen oder mal ein Fernglas in die Hand zu nehmen und den Horizont nach Besuchern abzusuchen.

Man sollte meinen, das ein Ozean oder eben auch ein Seengebiet wie die Biskayabucht so groß ist, daß die Gefahr von Zusammenstößen praktisch nicht existiert. Doch das stimmt nicht. Und das werde ich in dieser Nacht gleich zwei Mal erfahren.

Der restliche Tag plätschert vor sich hin und wir legen Seemeile um Seemeile per Motor zurück. Das Meer ist vergleichsweise ruhig und gegen Abend geht es an die Aufteilung der Nachtwachen. Die erste Wache fällt auf mich. So hatte ich es mir erbeten. Ich werde also von zehn Uhr bis um Mitternacht die Instrumente und die Umgebung überwachen. „Pah“, denke ich mir, „Was soll denn schon passieren? Wir sind auf dem offenen Meer und den ganzen Tag haben wir kein anderes Schiff gesehen.“ Doch Philipp belehrt mich eines besseren und weist mich am Kartenplotter auf mehrere Dreiecke hin. Andere Schiffe, die sich in unserer Umgebung befinden. Sind die nah! Unglaublich. Ist das Zufall? Keine Ahnung, doch beim Segeln, so bemerke ich, entstehen durch die Beantwortung einer Frage direkt zehn Neue. Wie soll ich das denn machen mit dem Ausweichen? Wie deaktiviere ich die Automatiksteuerung? Wie aktiviere ich sie nach dem Manöver wieder? Wann weiche ich aus? Wenn ich theoretisch Vorfahrt habe, weiche ich trotzdem aus? Ich kenne die Vorfahrt- und Anti-Kolissions-Regeln noch aus meine Sportbootführerschein-Ausbildung recht gut und weiß, das auf See beispielsweise Rechts-vor-Links gilt. Wie auf der Straße. Kommt also ein Motorfahrzeug von rechts, so muss ich selbst dafür sorgen, daß es nicht zur Kollision kommt. Nähert sich hingegen ein Motorfahrzeug von links, habe ich Vorfahrt. Klar. Philipp erklärt mir jedoch, das es sich in der Praxis natürlich anders verhalte. Selbstverständlich werden wir als vergleichsweise kleines Boot einem Containerfrachter eher ausweichen als er uns. Bis so ein Ozeanriese seinen Kurs geändert, uns umfahren und dann wieder den richtigen Kurs eingeschlagen hat, vergehen etliche Seemeilen.

Mit vielen neuen Infos überlässt er mir dann das Ruder, bzw. die Überwachung des Autopiloten.
Nach nur wenigen Minuten, das restliche Schiff ist mittlerweile dunkel und ich sitze in kompletter Offshore-Montur auf dem Platz des Steuermanns, kommt es dann wirklich zur ersten Begegnung: von links nähert sich in Zeitlupe ein Containerfrachter. Zuerst nur auf dem Bildschirm zu sehen, dann tauchen irgendwann seine Positionslichter auf: Ich sehe zwei Toplicher und die grüne Laterne der Steuerbordseite, die sich von links ins Bild schieben. Diese Lichterführung bedeutet, das es sich um ein Motorfahrzeug von mehr als 50m unter Fahrt handelt. Ein kurzer Blick ins Infosystem der Navigationselektronik bestätigt meine Annahme.

Peilung

Wir begegnen einem Frachter

Wir begegnen einem Frachter

Ich beobachte gebannt, wie wir uns gegenseitig nähern. Beinah auf Kollisionskurs. „Peilung!“, denke ich, „da war doch was!“ Ich nutze also einen Teil unseres Schiffs, in diesem Fall die Backbordwant und Peile über diesen Fixpunkt den Frachter an.

Fällt dieser nun nach links ab, dann werde ich sein Fahrwasser vor ihm queren. Entfernen sich die Positionslichter nach rechts von meiner Peilung, heißt das, daß er unseren Kreuzungspunkt vor mir erreichen wird. Nur wenn sich seine relative Position nicht verändert, bedeutet das, wir sind drauf und dran, zusammenzustoßen.

Noch einige Minuten beobachte ich den Frachter, vergleiche immer wieder die gepeilte Position und stelle fest: er wird vor mir durch fahren können, ohne das ich ihn „erwische“. In vergleichsweise knappem Abstand von ungefähr einer halben Seemeile begegnen wir uns. Der Megatonnenfrachter und die Plastikschüssel. Wahnsinn. Ich hätte nie gedacht, daß es auf See mal so knapp zugehen könnte.

Die AIS-Daten des Frachters

Die AIS-Daten des Frachters

Und zu allem Überfluss wiederholt sich dieses Schauspiel wenige Minuten später ein weiteres Mal: wieder nähert sich ein Frachter von links. Wieder peile ich. Nur dieses Mal verändert sich seine Peilposition nicht. Stoisch hält er seinen Kurs.

Richtig was los hier!

Richtig was los hier!

Unbeirrbar nähern wir uns und eigentlich, so hab ich es mal in der Fahrschule gelernt, sollte er jetzt ausweichen. Doch unser Skipper hat mich vorbereitet! Ich weiß, was zu tun ist: Im richtigen Moment werde ich das Ausweichmanöver einleiten. Deutlich, entschlossen und in einem Zug. Das wiederum habe ich auch beim Sportbootführerschein schon gelernt. Man lernt halt nie aus!

Ich warte also noch etwas, bis ich die Zeit für gekommen halte und drücke dann am Navigationscomputer die „Standby“-Taste. Sofort stellt das System seine Kurshalte-Arbeit ein und ich merke am Steuerrad, daß ich es nun bin, der das Schiff lenkt. Wie aufregend. Genau genommen ist das das erste Mal, das ich außerhalb der Fahrstunden ein Schiff in der Hand habe. Cooles Gefühl.

Jetzt alles richtig machen! Ich drehe das Rad nach links und der Bug des Katamarans dreht sich in Richtung des Hecks des Frachters. Gut so. Jetzt gegenlenken und dafür sorgen, daß der Pott vor mir mein Fahrwasser kreuzt.

Ein paar Minuten vergehen und mein erstes Manöver auf hoher See nimmt genau den gewünschten Verlauf! Aye Käptn! Kurs zehn Grad nach Backbord! Hochbefriedigte sehe ich die Lichter des Frachters nach Steuerbord verschwinden.
Jetzt nur noch die Automatik wieder rein und weiter geht’s.

Wie war das noch? Auf „Automatik“ drücken und dann so lange auf „Mode“, bis das Bestätigungsfenster erscheint.
Gesagt, getan. Ich bemerke, wie die Automatik wieder das Ruder übernimmt und schaue auf dem Bildschirm nach, ob der Kurs sich wieder in Richtung Gijon (das ist inzwischen unser Kurs) ändert.

Hm. Irgendwie. Stimmt da was nicht. Der Kurs sollte jetzt wieder bei etwa 140° landen. Doch der Bug des Schiffs dreht sich in Richtung des verschwindenden Frachters.

Nicht einfach Knöpfchen drücken

Ich bin irritiert. Hatte doch alles so gemacht, wie Philipp es mir gesagt hat. Der gleiche Ablauf: Automatik – Mode – Mode – Mode – Mode – Mode. Das interessiert die Selbststeueranlage aber nicht. Ich schalte also wieder auf Standby und übernehme selbst die Steuerung. Drehe den Kat wieder in Richtung 140°. Versuche die Tastenfolge erneut. Mit dem selben Ergebnis.

Jetzt gebe ich dem Schiff nicht die Gelegenheit, ganz in Richtung des Frachters zu drehen, sondern schalte schon vorher wieder auf manuelle Steuerung zurück.

Ok. Von vorne: Was mach ich eigentlich hier? Ich schaue mir genauer an, was ich mit der vorgegebenen Tastenfolge eigentlich auslöse und stelle fest, daß der Kat mit dem Aktivieren des Steuerautomatik Kurs auf das zuvor auf dem Bildschirm gesetzte Kreuz nimmt. Eigentlich einleuchtend: Zielort markieren, Automatik drücken und das Schiff wird in Richtung des Kreuzes gelenkt. Wenn ich also das Kreuz auf den Frachter setze, dann wird die Automatik denken: „Er will dem Frachter folgen. Also hinterher!“.

Will ich aber nicht. Ich teste meine Theorie. Verkleinere also die Kartenansicht und such auf der Karte unseren Zielort Gijon. Dort setze ich das Markierungskreuz. Ein Druck auf die Automatik-Taste und ich spüre an den Bewegungen des Rads, wie der elektronische Helfer wieder die Arbeit aufnimmt. Diesmal stimmt die Richtung. Geschafft! ICH. HABE. FEUER. GEMACHT!

Hochzufrieden sitze ich auf dem Steuerstand und blicke in die kalte Nacht hinein. Rings um mich das schwarze Wasser der Biskaya. Der nächste Flecken Land ist hunderte von Kilometern entfernt. Doch meine erfolgreichen ersten Manöver und das Anfreunden mit der Technik des Schiffs geben mir Sicherheit.

Sicherheit

So sitze ich noch eine ganze Weile oben auf der Bank und überziehe meine Nachtwachen um eine ganze Stunde. Träume vor mich hin und geniesse, daß die letzten Symptome der Seekrankheit nun beinahe verschwunden sind. Noch vor 24 Stunden habe ich alles angezweifelt. Mir war kalt. Mir war schlecht. Mir war schwindelig. Ich war müde. Ich wollte rechts ranfahren und aussteigen. Doch das funktioniert so nicht. Und so floss ich mit den Ereignissen mit. Und bekam neuen Mut. Neue Zuversicht stellte sich ein. Mit jedem erfolgreichen Werk ein Stückchen mehr. Und so sitze ich hier, der kalte Wind der Biskaya versucht mich frösteln zu machen, doch ich bin gut angezogen. Er kommt nicht zu mir durch. Bläst mir nur ins Gesicht und bringt immer etwas Salz mit. Meine Lippen sind salzig und ich schmecke den Geschmack der See.

Um ein Uhr wecke ich Gaetan. Er ist nach mir dran. Kurze Besprechung. Ich erkläre ihm, wie ich die Automatik eingestellt habe. Keine weiteren Vorkommnisse. Nichts Besonderes. Wir Segler.

Ich weiß, ich habe noch unglaublich viel zu lernen. Viele neue Erfahrungen liegen noch vor mir. Und doch bin ich heute gewachsen. Ich weiß jetzt wieder, wo hin es geht.

Unten in meiner Koje schäle ich mich aus meinem Ölzeug. Immer wieder mal kommt dieses Schwindelgefühl auf. Doch es gewinnt nicht mehr die Oberhand. Ich bin wieder der Kapitän auf der Brücke meines Körpers. Müde und zufrieden krieche ich in meinen Schlafsack und in dem Moment, in dem mein Kopf mein aufblasbares Kopfkissen berührt, schlafe ich ein.

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